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Herkunft Die
Herkunft, ist sie Behinderung oder Bereicherung zur Existenzbildung
in einem anderen Land? Hier mein Versuch, die Macht und die Dimension
der Herkunft zu erfassen, ihre Auswirkung auf das eigene Verhalten,
auf die Arbeit und die Beziehung zum neuen Land. Ein Versuch mit dem
Ziel, herauszufinden, ob es möglich ist, woanders eine zweite
Heimat zu bekommen – eine
gute Stiefmutter zum Herkunftsland. Den Spuren der eigenen Herkunft
folgend herauszufinden, ob es möglich ist, die Eigen-Art, die
eigenen Impulse, die eigene Lebendigkeit zu erhalten und danach zu
leben – wenn diese nicht durch Anpassungsanstrengungen gehobelt,
geradegezogen, geschmälert, tot organisiert wurde. Der Hinzugekommene
hat im Lauf der Zeit die Andersartigkeit von Sitten, Charakter-eigenschaften,
Lebensauffassungen der hier Geborenen in sein Privates einbeziehen
müssen, während bei ihnen nur das Gewohnte, schon Gesehene,
schon Gehörte, das Ureigene, das »Unsere« Ein- und
Durchgang findet. Das, was für sie neu, anders ist, finden sie
nicht selten mühsam, lästig. Sie sind ja mit diesem Boden
verwachsen; sie können sich auf Rechte berufen, die auf Ererbtem,
Traditionen, ja Vorbewusstem beruhen. Sie können sich auf die
Vorvergangenheit vieler Generationen berufen, die durch Brauchbares
und Unbrauchbares die Zutaten für das Gehäuse-Leben in
der Gegenwart geprägt haben. Der Hinzugekommene hat seine Traditionen
zurückgelassen, wenn auch irgendwo bewahrt. Er praktiziert sie
nicht, lebt nicht mit und nicht nach ihnen, trotzdem sind sie in
ihm, mit ihm verwachsen. Diese Traditionen – in denen oft Schutz,
Zuflucht zu finden ist – erschweren sein Verhalten den anderen
gegenüber und erzwingen Vergleiche.Die Menschen, mit denen der
Hinzugekommene im täglichen Leben konfrontiert ist, sind selbst
in ihrem Herkunfts-Ballast eingezwängt, ihr misstrauendes, abweisendes
Verhalten resultiert vielleicht daraus. Sie halten ihre Gefühle
in sicherer Entfernung, eingelagert in Überlegungen, jede Möglichkeit
der Spontaneität glattstreichend. Das Massige an ihrer Art lässt
sie eingeschlossen erscheinen, in einer festgeprägten Form,
knapp, gemessen, symmetrisch. Diese Form steht ihnen selbst im Wege.
Der Hinzugekommene begreift diesen kompakten Körper nicht, er
realisiert nicht gleich dessen Beschaffenheit, Eigenschaften, Vorzüge,
Fehler und das Volumen seiner Verletzlichkeit. Er erhält den
Eindruck einer sterilen Lebensart, in der Geradlinigkeit und Disziplin
als Tugenden gelten – Haben und Sein, Nachzählen, Schaffen
und Anschaffen Gewicht haben. Dies sind Redlichkeiten, die Spiegelsplitter
ihrer Wesensart darstellen. Der Hinzugekommene ist – als der
andere, fremde Mensch in dieser ohne sein Zutun schon geformten Umgebung – neu.
Er wird Objekt einer ständigen, vielleicht unbewussten Beobachtung
und Analyse. Ihm wachsen Wahrnehmungsantennen, er wird empfindlich
und in der Folge verletzbar. Dergestalt sensibilisiert, trägt
er seine Herkunft nun mit Stolz, wie Frauen ihre Schwangerschaft,
oder hält sie vor sich hin, wie ein Abwehrschild, während
doch darauf stehen sollte: ich möchte Zuneigung, keine Beurteilung.
Seine Herkunftsspuren sind für ihn Motor und Bremse zugleich,
ihre Auswirkungen sind launisch: in Gesellschaft ist die Andersartigkeit
charmant, apart, das ungenaue Sprechen reizvoll besonders. Bei anderen
Gelegenheiten ist die Andersartigkeit lästig, unsympathisch,
hinderlich. Die unzureichende Sprachkenntnis ärgerlich. Es erscheint
unumgänglich, die eigene Persönlichkeit an das Neue, Andere
anzupassen und dabei eine Seelen- und Körperbalance zu exerzieren,
um die Herkunftsspuren nicht ganz zu verwischen. Dieser Prozess beginnt
nicht ab einem festgesetzten Moment. Er fängt von selbst an,
vielleicht hat er schon längst seine Arbeit im Unterbewusstsein
eingeleitet. Das Ergebnis: ein innerliches Zappeln, Anecken, Abschleifen,
Häuten, Assimilieren. Regungen, Anschauungen, Bewegungen, Affekte
eindämmen, koordinieren, dosieren, sie – zur richtigen
Zeit – an Situationen anpassen. Dies alles bildet Spuren, die
am Charakter nagen, Konflikte verursachen. Die Herkunft sollte bei
Bedarf ablegbar sein, wie ein Gewand. Legt man sie ab, ist man frei
wie ein Fußamputierter. Legt man sie nicht ab, erschwert das
ein anderes Denken, eine andere Art. Trägt man die Herkunft
in sich, sucht man seine Wurzeln im eigenen Lebensbereich, in den
Menschen um sich, in den Dingen, den Situationen, den Zuständen.
Diese Wurzeln wandern mit dem Hinzugekommenen auf diesem welligen
Boden, dabei zeigen sich immer andere Horizonte. Auf der Suche nach
den notwendigen bildenden und bindenden Elementen ist der Hinzugekommene
hin- und hergerissen zwischen divergenten und sich zugleich überkreuzenden
Gefühlen: die Eigenart bewahren oder elastisch sein, Distanz
schaffen zur eigenen Kultur, Geschichte, Landschaft, Farbe, zu Klima
und Klängen? Die Empfindung eines entstandenen Vakuums, von
etwas Vertanem oder nicht Wahrgenommenen, verursacht Unsicherheit.
Seine Heimat verlassend hat der Hinzugekommene auf Rechte verzichtet,
Rechte, die durch Zugehörigkeit, Präsenz, Mitleben entstehen.
Jetzt aber lebt er in diesem anderen Land, er muss präsent werden,
mit-leben und teil-nehmen an dessen Ereignissen, an dessen Geschichte.
Nicht irgendwann, sondern zu einem, wer weiß von wem oder was,
festgelegten Moment merkt der Hinzugekommene mit Freude, wie er mühelos
von anderen angelächelt wird: er ist liebenswürdig, handhabbar
geworden, mit würdigen Falten in seinem Innern und Äußeren
ausgestattet. Er kommt an. Er wird für gut befunden. Es ist
zwingend, die Spuren der eigenen Herkunft in das Jetzt, in das Tägliche
hinein zu nehmen. UM diese Konturen zu ziehen, sie immer wieder nachzuzeichnen,
gut sichtbar, gut fühlbar. UM einen eigenen Raum bilden zu können.
Dieser eigene Raum kann zur Heimat werden, in ihm kann Reales, Essenzielles
wie Familie, Bedürfnisse, Verhalten, Arbeit, Freunde geborgen
werden. Gleiche Dinge zu sehen wie in der Heimat: Blumen, Bäume,
Gräser, alles was Ähnlichkeit hat mit Vertrautem, Gerüche,
Düfte, Klänge, Geräusche. Ein Lächeln, ein warmer
Gesichtsausdruck eines unbekannten Menschen. Ein Landschaftsdetail,
ein Platz, gezeichnet von Licht und Schatten, das Gebell eines Hundes
in der Stille. DESHALB – das Herz soll sich am wunderschönen
Rhein erregen, sich daran erfreuen, und es soll nicht zergehen in
der Erinnerung des Anblicks der Fiumare, ihrer Farben, der heißen
Erde und der statischen Stille des Sommers – in der Heimat. |
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